Langsam füllen sich die blauen Sessel im Saal. Kinder mit ihren Eltern, manche aus dem Guasmo, manche, die zufällig im Vorübergehen auf uns aufmerksam geworden sind. Paúl und ich stehen am Eingang, begrüßen die Gäste und unterhalten uns über das letzte Jubiläumskonzert. Das war vor zehn Jahren, als wir im Casa de la Cultura, direkt gegenüber vom Parque Centenario gespielt haben. Viele Schüler*innen von damals sind weitergezogen, haben mit dem Studium begonnen oder leben nicht mehr im Guasmo. Einige sind aber auch wie Paúl geblieben und arbeiten jetzt ehrenamtlich als Lehrkräfte in Clave de Sur. Ana tritt auf die Bühne, kündigt an, dass das Konzert in wenigen Minuten beginnen wird. Im Publikum zückt jemand das Handy und scannt den QR-Code mit dem Programmablauf.
Ich bin seit einer Woche zurück in Ecuador, bin aus meinem deutschen Leben in eine andere Realität eingetaucht. Vieles ist mir vertraut, manches ist neu. Die mehrstöckigen großen Häuser im Guasmo zum Beispiel. Oder die große Anzahl an Motorrädern und Tresymotos. Statt krähenden Hähnen klingen jetzt Feuerwerkskörper durch die frühmorgendlichen Straßen. Die Metrovia hält nicht mehr an der Straßenecke, die Supermarktkette Tuti erobert das Viertel. Auf dem Dach von Mi Cometa steht jetzt eine Netzantenne von Claro und im Haus gegenüber werden Erdbeeren mit Sahne verkauft.
Geblieben ist die Herzlichkeit. Menschen, die mich mit offenen Armen empfangen. Die Liebe fürs Essen, der Geschmack von Verde am Morgen, der Geruch von Reis und Koriander. Die Katzen, die über das Wellblechdach tollen, Bingos und Schwimmbecken auf den Straßen. Und die Musik: In Clave de Sur haben sich alle mit viel Enthusiasmus in die Vorbereitungen des Jubiläums gestützt. Ein Monat voller Aktivitäten, der Disziplin abverlangt, aber viel Freude zurückgibt. Weder die Pandemie, noch die Stromausfälle oder die sich zuspitzende Sicherheitskrise haben Clave de Sur daran gehindert in den letzten Jahren zu wachsen. Neben Musik- werden immer wieder Tanz- und Theaterkurse angeboten. Die Vielfalt und Qualität des musikalischen Angebots ist gestiegen und Strukturen haben sich weiter gefestigt.
Das Konzert beginnt. Ana erzählt, wie alles vor zwanzig Jahren begann. Mit Magdalena Abrams, einer Freiwilligen aus Deutschland. Mit einer Gitarre, mit Reis gefüllten Plastikflaschen und anderen Percussion-Instrumenten aus Recyclingmaterial. Código 29, das in Mi Cometa ansässige Rap-Projekt tritt auf die Bühne und eröffnet das Konzert.
Zum Jubiläum gehört nicht nur das Konzert, aber es ist ein emotionaler Höhepunkt, auf den sich Schüler*innen und Lehrkräfte monatelang vorbereitet haben. In den kommenden Wochen werden wir eine Podiumsdiskussion mit musikalischer Untermalung am deutschen Kulturzentrum durchführen, eine Feier mit der Musikschulgemeinschaft, inklusive selbst gekochtem Abendessen organisieren, an der Hochschule einen Song aufnehmen und bei einem gemeinsamen Wochenende am Strand Visionen für die Zukunft entwickeln.
Aber erstmal ist das Konzert in vollem Gang. In den Umbaupausen zeichnet Ana weiter die Geschichte des Projekts nach. Der Beginn von Musiker ohne Grenzen e.V., die Entstehung der Projekte in Playas, Olón, Galapagos und Ghana… Danach ist die Reggae-Band an der Reihe. Das Lied ist eine Eigenkomposition. Lena singt:
„Mein lieber Guasmo, kunterbunter Ort
In deinen Straßen werden Träumer geboren.
Die Sonne geht auf, die Hitze nimmt zu
Und in jeder Ecke triffst Du auf Liebe.
Auf den Guasmo, wo die Menschen lachen,
wo Kampf und Hoffnung nie vergehen
Auf dem Fußballplatz spielen Kinder, treten nach dem Ball,
das Leben ist hart, aber voller Leidenschaft.
Guasmo Ort voll Glaube und Gemeinschaft,
Viertel, das in meinem Herzen lebt
Mit Reggae singe ich für Dich, ich will Dir sagen
Dass man diesen, meinen Guasmo mit nichts vergleichen kann.“ (frei übersetzt aus dem Spanischen)
Obwohl ich nach langer Zeit wieder nach Ecuador zurückgekommen bin, fühlt sich der Guasmo immer noch vertraut an. Hier liegen so viele meiner Erinnerungen begraben. Momente und Begegnungen, die mein Leben beeinflusst haben. Obwohl die Lage in Guayaquil in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist, bleibt der Guasmo auch ein Ort voll Herzlichkeit und Hoffnung.
Die letzten Akkorde der Salsa Band verschwimmen mit dem Klatschen des Publikums. Als Nächstes tritt die Tanzgruppe auf die Bühne. Seit 2018 finden in regelmäßigen Abständen Tanzkurse in Clave de Sur statt. Das einzige Problem: Lehrkräfte zu finden ist eine große Herausforderung. Daher sind die Unterrichtskapazitäten häufig begrenzt. Jetzt tanzen fünf Schülerinnen gemeinsam mit ihrer Lehrerin. Sie drehen sich im Kreis, heben die Arme, alles ziemlich synchron. Die Choreografie wird fehlerfrei beendet.
Abgesehen vom großen Jubiläumskonzert, haben wir 20 Jahre Clave de Sur auch zum Anlass genommen, um in Vergessenheit geratene Kontakte wiederzubeleben. Eines der ersten Konzerte, das Clave de Sur spielte fand im Centro Cultural Ecuatoriano Aleman, dem deutschen Kulturzentrum in Guayaquil statt. Bei Kaffee und Kuchen hatten Ana und ich Anfang August die Gelegenheit, Clave de Sur und Musiker ohne Grenzen vorzustellen und eine neue Vereinbarung mit dem Centro zu schließen. Konzerte, aber auch andere Kulturveranstaltung, wie die Paneldiskussion, die wir am 22. August dort veranstalteten können so in Zukunft häufiger stattfinden.
Neben dem Tanz- hat sich 2023 auch ein Theaterkurs in Clave de Sur entwickelt. Seit letztem Jahr haben die Schüler*innen ein ambitioniertes Projekt verfolgt: Den Dreh eines Kurzfilms. Nur wenige Tage vor dem Konzert wurde er fertiggestellt. Jetzt läuft das Intro auf der großen Leinwand an. Der Film erzählt von den Herausforderungen für Kinder und Jugendliche im Viertel, von fehlenden Freizeitbeschäftigungen, von Drogenbanden, von Familien, die in die USA emigrieren und von dem Theater als Alternative. Als der Applaus verklingt stehe ich hinter der Bühne. Ich darf jetzt eine Auszeichnung für Musiker ohne Grenzen – Guayaquil e.V. entgegennehmen. Auch Magdalena Abrams und die Bürgerinitiative Mi Cometa werden geehrt. Im Namen von Musiker ohne Grenzen – Guayaquil e.V. überreichen wir eine Collage – 20 Jahre Clave de Sur und Musiker ohne Grenzen im A3-Format. Ich bin tausende Fotos durchgegangen, um dieses Bild zu erstellen. Darauf sieht man, was dieses Projekt über all die Jahre am stärksten geprägt hat: Es sind die Freundschaften, die Gemeinschaft und die Liebe für Kunst und Musik. Clave de Sur ist so viel mehr als ein Kulturzentrum. Es ist ein Ort der gelebten Gemeinschaft, vereint durch die Leidenschaft für Kunst, die Neugierde aufs Lernen, das Bedürfnis sich auszudrücken und den Wunsch diese Welt ein kleines bisschen zu verändern. Diese Gemeinschaft wächst, wenn wir neue Freiwillige schicken, wenn sich eine Schülerin zum Unterricht einschreibt oder die Eltern im Konzert applaudieren. Und von Beginn an reichte dieser Zusammenhalt über den atlantischen Ozean hinaus, bis nach Deutschland. Clave de Sur hat Spuren im Leben vieler Freiwilliger hinterlassen. Auch in meinem eigenen. Dieses Jubiläum zeigt, wie viel man gemeinsam erreichen kann und erinnert mich selbst daran, dass ich schon seit elf Jahren Teil dieser Geschichte bin.
Das letzte Lied, das wir aufführen heißt „la música“. Geschrieben wurde es zum fünfjährigen Jubiläum von Clave de Sur. Seither haben wir es immer wieder in unterschiedlichen Versionen aufgeführt. Zuletzt digital, während der Covid-19 Pandemie, mitten im Lockdown. Das Lied handelt vom Guasmo und der Musik als alternativen Weg: „Während ich durch die staubigen Straßen des Guasmo laufe, höre ich die Bachata des Nachbarn und nehme den Geruch von Marihuana und Alkohol wahr. Und ich sage zu mir selbst: Das will ich nicht. Aber ich habe eine Alternative. Vielleicht einen Weg, eine Lösung. Ich spüre, dass die Musik meine Inspiration sein kann.“ Bei diesem letzten Lied spielen fast alle mit. Dann ist das Konzert aus. Es fließen Tränen, wir umarmen uns. In diesem Moment sind so viele Momente präsent, so viele Personen, so viele Erinnerungen, Herausforderungen, Probleme und Lösungen.
Zwei Wochen später sitzen wir in Hängematten und sprechen über die Zukunft. Welche Ziele hat Clave de Sur, welche Wünsche? Wie kann das Erreichte nachhaltig festgehalten und ausgeweitet werden? Welche Schwierigkeiten sind aufgetreten und wie können wir ihnen begegnen? Alle beteiligen sich. Ich sitze in der Mitte des Kreises und halte die Vorschläge in einer Mind-Map fest. Es wird auch die Aufgabe von Musiker ohne Grenzen sein, diese Vision in Realität zu verwandeln.
Als Projektleiterin von Musiker ohne Grenzen – Guayaquil e.V. möchte ich mich bei alldenjenigen bedanken, die Teil dieses Jubiläums waren. Natürlich bei allen Engagierten in Clave de Sur, aber auch bei den Menschen, die uns von Deutschland aus unterstützen. An dieser grenzenlosen Gemeinschaft werden wir auch in Zukunft festhalten.
Bericht von unserer Projektleiterin Naomi Mebus
